Ankommen in Gelsenkirchen
biografische Notizen
1990 – heute
Evgenija Libovic
(geb. 1936)
Evgenija Libovic ist 56 Jahre alt, als sie 1992 aus Schytomyr in der heutigen Ukraine nach Gelsenkirchen kommt. Ihre Mutter (Jg. 1907) wächst in einem jüdischem Viertel auf. Ihre Großmutter und Mutter sprechen noch jiddisch. Sie lernt Russisch und Ukrainisch und wächst säkular auf. Die Familie wird nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion in die Gegend von Stalingrad evakuiert. Ihr Vater und ihr Bruder fallen als sowjetische Soldaten im Krieg. Libovic arbeitet in Schytomir als Lehrerin. In Deutschland allerdings findet sie keinen entsprechenden Arbeitsplatz. Die Jüdische Gemeinde Gelsenkirchen wird ihr zur neuen Heimat.
Über ihr Ankommen in Gelsenkirchen berichtet sie:
„In Gelsenkirchen wurden wir zum Gebäude der AWO gebracht, und der erste, der dort stand und uns erwartete, war Herr Ostrowiecki, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde.[…] Wir sind mit zwei jüdischen Familien gekommen, und im Gemeindesaal gab es Kaffee und Schnittchen, und dann hat er uns mit den Papieren geholfen.
Wir konnten ja kein Deutsch, mussten aber viele Formulare ausfüllen – das hat er alles gemacht. Die Hilfe ging dann immer weiter – wir kamen zunächst in eine Notwohnung, und es fehlten noch viele Einrichtungsgegenstände, zum Beispiel ein Elektroherd – Herr Ostrowiecki hat ihn besorgt.“
Evgenija Libovic über ihr Ankommen in Gelsenkirchen
Evgenija Libovic (rechts) im Laborraum der Pharmazieschule in Schytomyr, in der sie 27 Jahre als Lehrerin für pharmazeutische Chemie unterrichtet, ca. 1982
(Foto: privat)
Evgenija Libovic, 2017
(Foto: Stefan Nies)
Semen Chalif
(geb. 1940)
In der ukrainischen Stadt Odessa arbeitet Semen Chalif als Ingenieur in einer Kranbaufabrik. Ab 1990, als die Sowjetunion auseinanderbricht, sieht er sich verstärkt mit Antisemitismus konfrontiert:
„Ich glaube, das war immer so, dass in schweren Zeiten die Juden schuld sind. Bei uns war das auch so. Die Juden waren die schwächste Nationalität. Meine Tochter war 23 und meine Enkeltochter 4 Jahre alt. Meine Tochter lebte alleine und ich hatte Angst um sie, wenn ich zur Arbeit ging. Ich wusste nicht, was mit meiner Familie passiert. Wer in der Lage war, aus dieser Unsicherheit zu flüchten, machte das.“
Die Familie wandert nach Deutschland aus, kommt nach Gelsenkirchen und ist begeistert von der großen Hilfsbereitschaft der Menschen dort. Aber seine Berufsabschlüsse werden nicht anerkannt. Er arbeitet als Boxtrainer und hilft in der jüdischen Gemeinde als Sozialarbeiter.
Studiendiplom von Semen Chalif, 29. Februar 1960
(Foto: privat)
Semen Chalif in den Räumen der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen, 2017
(Foto: Dietrich Hackenberg)
Slava Pasku
(geb. 1975)
Slava Pasku stammt aus Litauen. Ihr Großvater Gorelik Semen ist in den 1970er-Jahren Rabbiner in der einzigen Synagoge in Vilnius, die es aus der Zeit vor dem Holocaust noch gibt. Slava Pasku ist deshalb mit den jüdischen Traditionen, dem Sabbat, den Festen und Feiertagen aufgewachsen. Ihr Großvater und ihre Eltern sprechen Jiddisch. Sie hat neben Litauisch und Russisch auch Hebräisch gelernt.
Im ab 1990 unabhängigen Litauen fühlen sich viele Juden und Jüdinnen angesichts erstarkender nationalistischer Strömungen nicht mehr sicher. Sie werden oftmals an der Universität und im Beruf benachteiligt. Als Slava Pasku 19 Jahre alt ist, ermuntern ihre Eltern sie 1995 zur Emigration nach Israel. Sie heiratet dort einen aus der Ukraine stammenden Mann. Beide ziehen nach Gelsenkirchen. Inzwischen haben sie zwei Kinder, die in Gelsenkirchen aufgewachsen sind und Deutsch und Russisch sprechen.
Slava Pasku beim Purim-Fest des Hebräischkurses der jüdischen Gemeinde in Vilnius (hintere Reihe, 4. v.li.), März 1995
(Foto: Privat)
Slava Pasku im jüdischen Gemeindezentrum, 2017.
(Foto: Dietrich Hackenberg)
„Vor allem für unsere Kinder ist Deutschland die Heimat. Wenn ich zu Besuch nach Litauen fahre, dann fühle ich natürlich noch, dass es meine Heimat ist, aber es hat sich viel verändert. In Israel habe ich Verwandte und in Litauen Freunde.“
Slava Pasku über ihre Situation in Deutschland, 2017.
In den letzten Jahren hat Slava Pasku oftmals auch Angst in Deutschland. Sie befürchtet, dass eines Tages wieder Juden als Sündenböcke herhalten müssen. Eine solche Angst habe sie in Israel trotz der instabilen Lage dort nie verspürt.