Aus dem Leben gerissen
Schicksale aus Gelsenkirchen
1933-1945
Leidenschaftlicher Fußballer: Ernst Alexander
(geb. 1914, ermordet 1942)
Als junger Mann spielt der Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie für den FC Schalke 04. Doch die Nazis verbieten es nach 1933 Juden, weiter Mitglied in Sportvereinen zu sein. Ernsts Eltern müssen ihren Lebensmittelladen schließen. Sein Vater wird im Juni 1938 ins Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert. Seine Mutter nimmt sich daraufhin das Leben.
Unter diesem Eindruck fliehen Ernst und seine jüngeren Geschwister Alfred und Johanna Ende 1938 in die Niederlande. Dort werden sie getrennt und sehen sich schließlich nie wieder. Ernst lebt eine Zeitlang in einem Flüchtlingsheim in Rotterdam. Er spielt zunächst beim Fußballverein Xerxes, dann bei Achilles Rotterdam.
Im Mai 1940 überfällt die deutsche Wehrmacht die Niederlande und die dorthin geflohenen Juden und Jüdinnen sitzen in der Falle. Mitte Juli 1942 wird der 28-jährige Ernst Alexander vom Lager Westerbork nach Auschwitz deportiert und dort am 28. August 1942 ermordet. Nur seine Schwester Johanna überlebt die Schoah, sie kehrt schließlich nach Gelsenkirchen zurück.
Ernst Alexander, Foto undatiert. Nur noch zwei Fotos existieren von dem aus Gelsenkirchen stammenden Fußballer.
(Nationaal Archief Den Haag, Niederlande)
Totenschein für Ernst Alexander, ausgestellt vom Lagerarzt des Konzentrationslagers Auschwitz am 7. September 1942.
(Memorial and Museum Auschwitz-Birkenau/Herinneringscentrum Kamp Westerbork)
Erstmalige Verleihung der „Ernst Alexander Auszeichnung für Integration, Vielfalt und Toleranz“ an Schüler*innen des Grillo-Gymnasiums Gelsenkirchen in der Veltins-Arena in Gelsenkirchen-Schalke, 6. Februar 2018. Der FC Schalke 04 schreibt auf seiner Website zu der Auszeichnung: „Wer andere Menschen ausgrenzt, hat auf Schalke keinen Platz. Kumpel stehen füreinander ein – Schalker machen sich für Menschen stark, die diskriminiert werden.“
(Foto: Karsten Rabas/FC Schalke 04)
Gerettet mit dem Kindertransport nach Schweden:
Klaus Back (1928-2020)
Klaus Back gelangt 1939 als 10-jähriger zusammen mit seinem 15-jährigen Bruder Ernst mit einem Kindertransport von Gelsenkirchen nach Schweden. Er überlebt dort die Schoah in einem Kinderheim. Seine Eltern sind Rechtsanwalt Moritz Back, der auch im Vorstand der jüdischen Gemeinde aktiv ist, und dessen Frau Paula. Diese können zwar die beiden Söhne und ihre Tochter Hilde nach Schweden retten, aber selbst nicht aus Deutschland entkommen. Sie werden Ende Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert. Moritz Back kommt dort ums Leben und Paula Back wird 1943 in Auschwitz ermordet. Die drei Geschwister bleiben nach Kriegsende in Schweden.
Mit organisierten „Kindertransporten“ werden 1938/1939 etwa 10.000 bis 12.000 jüdische Kinder gerettet, vorwiegend nach Großbritannien, aber auch in die Niederlande, nach Belgien, Frankreich, in die Schweiz und nach Schweden – die Länder lockern dafür ihre ansonsten sehr strengen Einreisevorschriften.
Ausflug ins Grüne, um 1933: Klaus Back (geb. 1928) mit seinem Vater Moritz Back, seiner Schwester Hilde (geb. 1922) und dem Bruder Ernst Ludwig (geb. 1923).
(Privatbesitz Klas Back)
Klaus Back mit seiner Mutter Paula bei einem Ausflug im Wald bei Lichtenau bei Paderborn, wo ein Onkel des Vaters lebt, um 1933.
(Privatbesitz Klas Back)
Klaus Back als 12-jähriger in einem Kinderheim für Jungen in Schweden in Uppsala (kniend in der vorderen Reihe, 2. von links), 1940. Hier wohnt er von 1939 bis 1945, während seine älteren Geschwister in Pflegefamilien untergebracht sind. Links auf dem Bild: die Betreuerin „Tante“ Sofie, eine in Berlin geborene deutsche Jüdin. Klaus Back bleibt in Schweden, nimmt dort später den Namen „Klas“ an, gründet eine eigene Familie.
(Privatbesitz Klas Back)
Letzte Postkarte von Klaus Back an seine Mutter Paula Back in Theresienstadt, zurückgesandt mit dem Vermerk „abgereist“, 1943. Klaus Back hat per Brief Kontakt zu seinen Eltern, die in ein „Judenhaus“ in der Klosterstraße 21 umziehen müssen und dann von Gelsenkirchen ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert werden. Von dort schreibt ihm die Mutter am 8. Januar 1943 die schockierende Nachricht, dass Vater nach kurzer Krankheit „sanft eingeschlafen“ sei. Im März 1943 kommt die abgebildete Postkarte als unzustellbar zurück. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfährt Klaus den Grund: die Mutter ist nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden.
(Privatbesitz Klas Back)
Arzt in Buer: Dr. Erich Oswald Caro
(1883–1975)
Der aus St. Petersburg stammende Erich Caro studiert in Berlin Medizin und wird im Ersten Weltkrieg Oberstabsarzt bei der deutschen Armee. 1921 kommt er nach Buer und eröffnet hier eine Praxis. Gemeldet ist er als evangelisch und heiratet die katholische Anna Lehner. Ihr Sohn Klaus (geb. 1921) wird evangelisch getauft. 1938 heiratet Caro ein zweites Mal, seine zweite Frau Änne-Martha stammt aus Mülheim an der Ruhr.
Weil Erich Caros Mutter Selma Jüdin war, stufen ihn die Nazi-Behörden als Juden ein. Er darf bald nicht mehr als Arzt arbeiten. Die Familie flieht in die Niederlande und überlebt dort mit viel Glück und falschen Ausweisen die deutsche Besatzungszeit. Im März 1946 kehren die Caros zurück nach Gelsenkirchen.
Reisepass für „Dr. Erich Israel Caro“, 1939, links oben ein gestempeltes „J“ für „Jude“
(Institut für Stadtgeschichte, Gelsenkirchen)
Bericht Dr. Caros über die Flucht nach und das Überleben in den Niederlanden, Beilage zu seinem Antrag auf „Wiedergutmachung“ an die deutschen Behörden, Januar 1949
(Institut für Stadtgeschichte, Gelsenkirchen)
Schreiben des Gelsenkirchener Oberbürgermeisters an den Kommandanten der britischen Militärregierung, 14. Januar 1946. Caro zieht im März 1946 wieder in sein Haus in der Gladbecker Straße ein und praktiziert dort als Arzt.
(Institut für Stadtgeschichte, Gelsenkirchen)
Von Ungarn über Auschwitz nach Gelsenkirchen:
Cornelia Neuwald, geb. Basch (1921–1969)
Cornelia (genannt Nelly) Basch ist zusammen mit fünf Geschwistern in einer orthodoxen jüdischen Familie in der seit 1918 rumänischen Stadt Sighet aufgewachsen, die 1940 von Ungarn annektiert wird. Über 10.000 Juden und Jüdinnen leben zu diesem Zeitpunkt dort. Sie werden bereits unter ungarischer Herrschaft bedroht. 1944 besetzt die deutsche Wehrmacht Ungarn und die systematische Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung beginnt.
Auch die Familie Basch wird im Mai 1944 nach Auschwitz deportiert. Die Mutter und die beiden 11- und 13-jährigen Brüder werden sofort in einer Gaskammer ermordet, später auch der Vater. Nelly und ihre drei Schwestern werden getrennt. Maria und Sarah kommen in verschiedene Lager in Norddeutschland und schließlich ins Konzentrationslager Bergen-Belsen. Dort werden sie 1945 befreit.
Nelly und die Schwester Adele werden mit weiteren Jüdinnen in ein KZ-Außenlager in Gelsenkirchen-Horst gebracht. Sie müssen Zwangsarbeit leisten. Bei einem Luftangriff wird Nelly schwer verletzt und überlebt. Sie bleibt nach der Befreiung in Gelsenkirchen. Dort heiratet sie Kurt Neuwald, der später für Jahrzehnte der jüdischen Gemeinde vorsteht. Die beiden haben zwei Kinder.
Das Hydrierwerk der Gelsenberg-Benzin AG in Gelsenkirchen-Horst nach einem Luftangriff, 1943.
Das Werk stellt Flugbenzin für die Wehrmacht her, daher ist es Luftangriffen ausgesetzt. Hier ist Cornelia Basch mit tausenden weiteren jüdischen Zwangsarbeiterinnen im Einsatz. Sie müssen unter unmenschlichen Bedingungen Trümmer beseitigen. Bei einem schweren Luftangriff am 11. September 1944 werden über 150 von ihnen getötet, viele weitere verletzt, denn Luftschutzräume dürfen die Zwangsarbeiterinnen nicht betreten.
(Institut für Stadtgeschichte, Gelsenkirchen / Foto: Werksfotograf)
Offizielle Namensliste „der durch Bombeneinwirkung am 11.9.1944 verletzten Frauen“ des „1. SS-Arbeitskommando[s] K.L. Buchenwald bei Gelsenberg Benzin A.G. in Gelsenkirchen-Horst.“ Als Nr. 19 ist Nelly Basch aufgeführt. Sie kommt mit viel Glück in das katholische St. Josefs-Hospital in Horst, wo sie mit 17 weiteren Verletzten vom Chefarzt Dr. Rudolf Bertram und Helferinnen versteckt und gepflegt wird und das Kriegsende überlebt. Gedenktafeln am St. Josefs-Krankenhaus und am ehem. Marien-Hospital in Rotthausen erinnern heute an Dr. Bertram, den der Staat Israel als „Gerechter unter den Völkern“ ehrt.
(Arolsen Archives/ITS)
Berechtigungsnachweis der Internationalen Flüchtlingsorganisation (IRO) für Cornelia Neuwald, geb. Basch, ausgestellt am 11. März 1949. „Die Person wurde als berechtigt befunden, die Unterstützung der IRO … in Anspruch zu nehmen: Rechtlicher und politischer Schutz einschließlich Repatriierung oder Umsiedlung“.
Die IRO ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, die sich von 1946 bis 1952 um die Millionen in Europa verstreuten „Displaced Persons“ kümmert (Juden und Jüdinnen und andere Verfolgte, Zwangsarbeiter*innen, Kriegsgefangene, Flüchtlinge und Vertriebene) und die Rückführung dieser Menschen in ihre Heimatländer oder ihre Auswanderung in andere Staaten ermöglichen soll.
(Arolsen Archives/ITS)
(evtl. zusätzlich das Foto von C. Basch aus dem Formular Abb. 200 als Einzelfoto größer und gedreht abbilden)
Von Cornelia Basch ausgefülltes Erfassungsformular des jüdischen Hilfskomitees in Gelsenkirchen, 11. Februar 1946.
(Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland, Heidelberg)
Meine Mutter Cornelia (Nelly) Basch war eine der „DP’s“ nach dem Ende des „Dritten Reiches“ in Gelsenkirchen, sie war eine „Displaced Person“, ein gestrandeter Mensch, sie war eine Jüdin aus Ungarn, die im „Dritten Reich“ eine schreckliche Leidenszeit durchgemacht hatte.
Nelly wurde am 28. Mai 1921 als ältestes Kind von Mindel und Jakob Basch in Sighet geboren. Sie hatte ein glückliches Leben zusammen mit drei Schwestern und zwei Brüdern: Maria, Adele, Sarah, Emmanuel und Moses.
Der Vater, Jakob, hatte blaue Augen und blonde Haare. Er arbeitete in Sighet in einer Likörfabrik als Meister. Ab und zu lieferte er auch den Likör an Kunden in ganz Rumänien und der ČSSR aus. Der Fabrikinhaber hieß Elias Stern und dessen Ehefrau war auch eine geborene Stern und eine Verwandte von Mindel. Jakob war Soldat im Ersten Weltkrieg und wurde verwundet.
Die Familie lebte orthodox und die beiden Jungen gingen in die Jeschiwa, die jüdische Schule, und die vier Mädchen wurden zuhause von dem Jeschiwe-Jungen Hershie Fisch unterrichtet. Er sollte ihnen das Alphabet und die Gebete beibringen. Später verlobte er sich mit Nelly, wurde aber vor der Hochzeit abgeholt und als Zwangsarbeiter nach Polen gebracht. Er überlebte und wanderte später nach Israel aus.
Die Familie Basch saß freitags abends nach dem Schabbesessen immer noch lange gemütlich zusammen am Tisch, man aß Kürbiskerne und Nüsse und erzählte sich Geschichten. Nelly las oft aus einem Buch oder erzählte von einem Film, den sie im Kino gesehen hatte. Sie war ein Wildfang und eine Kämpferin und ließ sich nie unterkriegen.
Anfang 1944 kam die deutsche Wehrmacht auch nach Sighet und sie internierten alle jüdischen Bewohner in einem Ghetto. Im Mai 1944 deportierten die SS und die ungarischen Behörden in vier Transporten insgesamt 12.759 Juden aus Sighet und Umgebung ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Die überwiegende Mehrheit der Deportierten wurde sofort nach ihrer Ankunft durch Giftgas ermordet. Zu diesen gehörten auch Mindel und die beiden kleinen Brüder von Nelly, sie gingen direkt nach Ankunft in die Gaskammern.
Ihr Vater Jakob wurde zunächst in ein Arbeitslager nach Schlesien deportiert. Er musste einen Tunnel graben, der jedoch zusammenbrach und sein Bein verletzte. Er wurde dann auf die Krankenstation gebracht. Kurz vor der Befreiung durch die Alliierten brachte man die Kranken, unter ihnen auch Jakob, nach Ausschwitz, wo sie sofort vergast wurden.
Die vier Mädchen kamen in das Lager und mussten Zwangsarbeit in Auschwitz leisten. Ständig hatten sie Angst, dass die beiden Kleineren, Maria und Sarah, aussortiert werden würden, und so haben sie sich immer ganz gerade gereckt, um größer zu erscheinen. So ging es ca. sechs Wochen lang. Es half jedoch alles nichts, bei einem der Appelle wurden die vier Mädchen doch getrennt. Maria und Sarah kamen zunächst nach Wilhelmshaven, dann für zwei Wochen nach Altona, dann nach Eidelstedt und schließlich, drei Tage vor der Befreiung durch die Alliierten, nach Bergen-Belsen.
Nelly und Adele kamen mit ca. 2000 Frauen über Buchenwald in das Außenlager der Gelsenberg Benzin AG in Gelsenkirchen. Die erbarmungswürdig aussehenden Frauen in Häftlingskleidung, mit Holzschuhen und kahlrasiert, wurden durch die ganze Stadt bis in den Stadtteil Horst getrieben. Dort mussten sie Schwerstarbeit leisten, und durften bei den häufigen Luftangriffen nicht in die Schutzbunker. Das Werk produzierte Flugzeugbenzin und war damit ein wichtiges Angriffsziel für die Alliierten.
Am 11.09.1944 wurde das Werk bei einem Großangriff zerstört. Viele Zwangsarbeiterinnen haben das nicht überlebt. Nelly wurde schwer verletzt, aber Juden durften ja nicht ins Krankenhaus. Glücklicherweise kam sie irgendwie doch in ein Krankenhaus, wo der Chefarzt Dr. Bertram war, der sie und einige andere unter großer Gefahr für sein eigenes Leben vor den Gestapo-Leuten versteckte und sie dort gesund pflegte. Er hat ihr und allen anderen das Leben gerettet!
Cornelia irrte nach der Befreiung durch die ihr unbekannte Stadt und traf durch Zufall auf Kurt Neuwald, der gerade auch erst nach Gelsenkirchen zurückgekehrt war und alle seine Lieben verloren hatte. Die beiden beschlossen, gemeinsam durch das Leben zu gehen und heirateten am 11. August 1947. Und sie gründeten eine Familie, meine Schwester wurde 1948 und ich 1959 geboren. Leider ist meine Mutter schon früh, am 05. Januar 1969, im Alter von nur 47 Jahren gestorben.
In dankbarer Erinnerung an sie – „Möge ihre Seele eingebunden sein in den ewigen Bund des Lebens“!
Die Lebensgeschichte von Cornelia (Nelly) Neuwald, geb. Basch (1921-1969)
Erzählt von ihrer Tochter Judith Neuwald-Tasbach