Bleiben oder gehen?
1945 – 1990
Wer sich nach 1945 als Jude oder Jüdin am Neuaufbau jüdischen Lebens auf der „blutbefleckten Erde Deutschlands“ beteiligt, muss sich dafür gegenüber der jüdischen Gemeinschaft rechtfertigen. Der Jüdische Weltkongress spricht sich 1948 in einer Resolution deutlich gegen eine Rückkehr nach Deutschland aus. Kurt Neuwald, Mitgründer der neuen jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen, sieht es anders: „Hitler soll nicht im Nachhinein noch Recht bekommen, indem Deutschland ‚judenfrei‘ ist.“
Die deutsche Gesellschaft lässt sich nur ungern an die Verbrechen erinnern. Dennoch wagen einige Juden und Jüdinnen den Neubeginn in Deutschland, zumal auch die Auswanderung mit Unsicherheiten verbunden ist. Das Bild der „gepackten Koffer“, die stets bereit liegen, um Deutschland doch zu verlassen, prägt ihr Empfinden allerdings noch Jahrzehnte nach der Schoah. Jüdische Menschen bleiben in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft eher unsichtbar. Die Debatte um Wiedergutmachung, aber auch Friedhofsschändungen und andere antisemitische Übergriffe verstärken das Gefühl der Unsicherheit.
Gedenkstein für die ermordeten Juden aus Buer auf dem Alten Friedhof an der Mühlenstraße, eingeweiht am 8. Oktober 1947. Diesen Gedenkstein lässt das Jüdische Hilfskomitee errichten. Er zeigt den Willen, in Gelsenkirchen bleiben zu wollen. Dort beginnt im bundesdeutschen Vergleich recht früh die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus. Den Anfang machen die betroffenen Opfergruppen selbst.
Die später veränderte Inschrift lautet ursprünglich: „Das Andenken der Gerechten ist zum Segen“ / „
Zum ewigen Gedenken an unsere feige dahingemordeten Schwestern und Brüder“.
(Foto: Werner Nickel/Institut für Stadtgeschichte, Gelsenkirchen)
Karikatur aus einer jüdischen Wochenzeitung, Juni 1951. Opfer des Nationalsozialismus können nach 1945 bei wechselnder Gesetzeslage „Wiedergutmachung“ für erlittene Schäden beantragen. Das bürokratische Verfahren macht sie aber oftmals zu Bittstellern. Viele Anträge scheitern.
(Allgemeine Jüdische Illustrierte, 1.6.1951; Zeichner: Peter Holstein)
Hakenkreuz-Schmierereien auf dem Ehrenmal für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft im Stadtgarten, 1959. Antisemitische Taten sind in der jungen Bundesrepublik keine Seltenheit. Allein zwischen 1947 und 1949 gibt es in Westfalen-Lippe 30 nachgewiesenen Friedhofs- und Synagogenschändungen. Zur Jahreswende 1959/60 kommt es zu einer „antisemitischen Welle“ von Straftaten, ausgehend von Schmierereien an der gerade eingeweihten Kölner Synagoge. In Gelsenkirchen werden immer wieder Friedhöfe geschändet.
(Foto: Kurt Müller/Institut für Stadtgeschichte, Gelsenkirchen)
Enthüllung der Gedenktafel am Standort der 25 Jahre zuvor zerstörten Gelsenkirchener Synagoge, 9. November 1963 (Bildmitte der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Kurt Neuwald, rechts Oberbürgermeister Hubert Scharley, SPD). Die Gedenktafel am Rande des Sparkassenparkplatzes sorgt für Kritik: „Nicht auf diesem kleinen Eckchen stand die Synagoge, sondern mitten auf dem Parkplatz. Ich finde, dahin gehört der Stein“, schreibt ein*e Leserbriefschreiber*in.
(Institut für Stadtgeschichte, Gelsenkirchen)
„Es war immer ein reger Betrieb bei uns zuhause, ich brachte Schulfreunde mit, manchmal kamen auch Eltern zu Besuch. Wie schwierig dies war […], habe ich erst später begriffen. Meine Eltern mussten ja damit akzeptieren, mit Menschen an einem Tisch zu sitzen, die im Nationalsozialismus im besten Fall geschwiegen haben und passiv waren und im schlimmen Fall aktiv mitgemacht haben bei der Verfolgung der Juden.“
Judith Neuwald-Tasbach, geb. 1959, über ihre Kindheit, Auszug aus einem Interview von 2016
Engagiert für die jüdische Gemeinschaft:
Kurt Neuwald (1906–2001)
Kurt Neuwald stammt aus einer alteingesessenen Gelsenkirchener Familie. Im Januar 1942 wird die Familie Neuwald in das Ghetto Riga deportiert und getrennt – nur Kurt Neuwald und sein Bruder Ernst überleben. Alle anderen 24 Familienangehörigen kommen uns Leben. Kurt Neuwald kehrt im April 1945 nach Gelsenkirchen zurück, baut das Bettenfachgeschäft der Familie neu auf, und heiratet Cornelia Basch, Überlebende des Zwangsarbeiterlagers in Gelsenkirchen-Horst.
Neuwald gehört zu den Mitgründer*innen der neuen jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen und ist von 1956 bis 1992 ihr Vorsitzender. Er engagiert sich auch überregional für die jüdische Gemeinschaft. So ist er u. a. von 1963 bis 1994 Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe und gehört von 1951 bis 1994 dem Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland an.
Kinowerbung für Betten Neuwald, vor 1938 (links) und in der Nachkriegszeit (rechts). Nach seiner kaufmännischen Lehre wird Kurt Neuwald Geschäftsführer und Mitinhaber des elterlichen Betten-Spezialgeschäfts an der Arminstraße 15. In der Pogromnacht im November 1938 wird das Geschäft verwüstet, die Familie verkauft es notgedrungen unter Wert.
In der Nachkriegszeit eröffnet Kurt Neuwald das Geschäft neu in der Arminstraße 11.
(Judith Neuwald-Tasbach, Gelsenkirchen)
Cornelia und Kurt Neuwald, 1954
(Judith Neuwald-Tasbach, Gelsenkirchen)
NRW-Kultusminister Paul Luchtenberg (FDP) überreicht Kurt Neuwald das Bundesverdienstkreuz, 29. Juni 1958.
(Foto: Alfons Kampert, Gelsenkirchen/Akten Jüdische Gemeinde Gelsenkirchen)
Kurt Neuwald (Mitte) mit fast 90 Jahren bei einer Veranstaltung auf dem jüdischen Friedhof, 1995. 1994 wird Neuwald zum Ehrenbürger der Stadt Gelsenkirchen ernannt. An dem Festakt nimmt NRW-Ministerpräsident Johannes Rau teil.
(Akten Jüdische Gemeinde Gelsenkirchen)
Die Frau im Vorstand:
Marie (Mika) Isenberg (1902–1985)
Marie Isenberg, genannt Mika, gehört zu den Überlebenden der Schoah, die sich direkt nach Kriegsende für den Aufbau einer neuen jüdischen Gemeinde engagieren. Mit ihrem Mann Adolf hat sie das Ghetto in Riga überstanden. Ihre zuvor in Ostpreußen lebende Familie wird bis auf zwei Schwestern im Holocaust ermordet.
Die gelernte Kauffrau Mika Isenberg wirkt jahrelang an der Seite von Kurt Neuwald im Vorstand der Gemeinde. Sie kümmert sich um die Kinder-, Jugend- und Bildungsarbeit und ist zeitweise Vorsitzende des Frauenvereins. Ihr Mann handelt mit Chanukkaleuchtern, Mesusot (Schriftkapseln für Türpfosten, in denen sich Thoratexte befinden) und anderen jüdisch-religiösen Artikeln. Mika näht für den westfälischen Landesverband der jüdischen Gemeinden Kippot (Mehrzahl von Kippa, Kopfbedeckungen für Männer) und Beutel für den Talit, den Gebetsmantel für Männer.
Kinder und Jugendliche vor dem Eingang der Gemeinderäume in der Von-der-Recke-Straße 9, rechts Mika Isenberg, Anfang 1960er-Jahre.
Mika Isenberg und andere Aktive unternehmen Ausflüge und andere Freizeitaktivitäten mit den Kindern der Gemeindemitglieder.
(Gerschon Brechner, Uetersen/Einige Personen wurden unkenntlich gemacht.)
Adolf und Mika Isenberg mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen bei einer Veranstaltung im Apollo-Kino in Gelsenkirchen, vermutlich Anfang 1950er-Jahre.
In der zweiten Reihe von links sitzen Adolf (mit Brille) und Mika Isenberg, daneben Ruth Elisabeth Kuschner (mit Pelzkragen).
(Dr. Dorit Kuschner, Israel)
Familie Brechner:
Rückkehr mit bürokratischen Hindernissen
Johanna Alexander (geb. 1923) stammt aus einer Gelsenkirchener Familie. Ihre Mutter begeht im Dezember 1938 Suizid, ihr Vater und ihre Brüder kommen in verschiedenen Konzentrationslagern ums Leben. Sie selbst wird zunächst nach Theresienstadt und im Juni 1944 nach Auschwitz deportiert, dort befreit und kommt 1945 schwer krank zurück nach Gelsenkirchen.
Baruch Brechner ist 1922 in Bochum in eine aus Polen stammende Familie geboren worden, die 1933 aus Deutschland ausgewiesen wird. Von der Familie überleben außer Baruch nur ein Bruder und eine Schwester den Holocaust. Er selbst ist von Oktober 1939 bis 1945 in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert und kommt 1945 nach Bochum zurück.
In Gelsenkirchen lernen sich Baruch und Johanna kennen und heiraten 1949. Sie wandern nach Israel aus, wo ihr erstes Kind Gerschon geboren wird. Johanna kehrt mit dem Sohn 1954 nach Gelsenkirchen zurück. Nur mit bürokratischen Hürden gelingt es der Familie, eine Einreiseerlaubnis auch für Baruch und (erst 1967) die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen. Sie erhalten „Wiedergutmachung“ für die KZ-Haft. Baruchs Antrag auf Ausgleich seiner „Schäden in der Ausbildung“ wird erst nach gerichtlichen Auseinandersetzungen Ende der 1960er-Jahre bewilligt.
Feier mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde, ca. 1948/49. Rechts sitzend Hanna und dahinter Baruch Brechner, daneben stehen Erika Kuschner und weiter links ihre Schwester Ruth Kuschner, die wenig später beide in die USA emigriert sind, links außen Alfred und Ida Braunstein von der jüdischen Gemeinde Bochum.
(Alfred Brechner, Gelsenkirchen)
Johanna und Baruch Brechner in Israel, Dezember 1952. Zeitweise leben die beiden in Haifa. Der Sohn Gerschon wird in Tiberias geboren. Johanna verträgt das Klima in Israel nicht, so kehrt die Familie aus gesundheitlichen Gründen zurück in die Bundesrepublik.
(Alfred Brechner, Gelsenkirchen)
Die Familie Brechner in Gelsenkirchen, Anfang der 1960er-Jahre. 1957 kommen Rosi Ella und Zwi Moses (später in Alfred umbenannt) als Zwillinge zur Welt. Johanna stirbt bereits 1969 im Alter von 46 Jahren. Baruch arbeitet als angelernter Industriearbeiter zunächst in der Glasindustrie und dann bei den Thyssen-Eisenwerken. Er ist in der jüdischen Gemeinde aktiv, bis er mit 74 Jahren 1997 verstirbt.
(Alfred Brechner, Gelsenkirchen)
„Wir lebten in zwei Welten – die jüdische war zentriert um die jüdische Gemeinde Gelsenkirchen. Dort trafen wir uns regelmäßig Freitagabend und Samstag sowie an (unseren) Feiertagen zu den Gottesdiensten. Die Gemeinde organisierte auch Tagesausflüge und Freizeiten.
Der Freundeskreis meiner Eltern, so meine Erinnerung, beschränkte sich überwiegend auf Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Gelsenkirchen, evtl. auch Bochum und Recklinghausen. „Deutsche“ Freunde hatten sie kaum.
Über die Familiengeschichte und die Zeit der Verfolgung haben sie mit uns Kindern nie gesprochen.“
Bericht des Sohns Alfred Brechner (geb. 1957), 2021