Erwachendes jüdisches Leben
in der jungen Industriestadt
1870 – 1933
Das ländliche Gelsenkirchen mit seinen Nachbarorten wie Schalke, Horst und Buer wächst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schnell zur Großstadt. Mit der neuen Industrie kommen tausende Menschen, um in den Berg-, Stahl- und Chemiewerken zu arbeiten oder Geschäfte und Warenhäuser zu eröffnen.
So suchen auch Juden und Jüdinnen hier ihr Glück. Um 1900 leben im Gebiet des heutigen Gelsenkirchen etwa 1.000 jüdische Menschen, 1933 sind es über 1.600 (weniger als 1 % der Gesamtbevölkerung).
Jüdische Unternehmer wie der Pelzhändler Leo Gompertz oder der Kaufhausdirektor Carl Hochheimer sind Teil des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Einige Geschäfte in den Innenstädten von Gelsenkirchen und Buer sind in Besitz jüdischer Familien. Meist gehören sie zum emanzipierten deutsch-jüdischen Bürgertum und stammen aus dem Rheinland oder Westfalen.
Ebenso kommen Juden und Jüdinnen mit proletarischem oder kleinbürgerlichem Hintergrund aus Osteuropa nach Gelsenkirchen. Als „Ostjuden“ sind sie unter den Alteingesessenen nicht gut angesehen. Sie sprechen oftmals Jiddisch statt Deutsch und Hebräisch.
Gelände der Zeche Consolidation in Gelsenkirchen-Schalke, nördlich der Innenstadt, 1929.
Wenige Jahrzehnte zuvor sind viele Gebiete Gelsenkirchens nahezu unbebaut. Nun prägen die Schornsteine der Eisen‑, Stahl- und Chemieindustrie sowie die Schachtanlagen der Bergwerke die Landschaft. Gelsenkirchen ist zeitweise Europas bedeutendste Kohlestadt.
(Abb.: Institut für Stadtgeschichte, Gelsenkirchen)
Kaufhaus Buer der Firma Gebr. Alsberg AG mit Mitarbeiter*innen und dem Geschäftsführer Benno Eichengrün, Ausschnitt aus einer Ansichtskarte von ca. 1910.
Zum jüdischen Alsberg-Konzern gehören bis zum Nationalsozialismus zahlreiche Kaufhausgeschäfte im Ruhrgebiet, so auch in Buer und Gelsenkirchen.
(Abb.: Sammlung Thomas Such)
Kaufhaus Alsberg an der Hochstraße, Ecke Horster Straße in Buer, ca. 1910. Das Gebäude erwirbt die Firma Alsberg um 1905 von Leo Röttgen, der Repräsentant für Buer in der Jüdischen Gemeinde Dorsten ist.
(Abb.: Sammlung Thomas Such)
Vergrößerung des Kaufhauses Alsberg in Buer, ab 1927. Beim Bau wird schrittweise vorgegangen, schließlich weicht auch das alte Eckhaus dem erheblich größeren Neubau. Geschäftsführer des Kaufhauses ist von 1905 bis 1933 Benno Eichengrün, der ab 1911 im Vorstand der Untergemeinde Buer der Jüdischen Gemeinde Dorsten aktiv ist.
(Abb.: Sammlung Thomas Such)
Werbung für das Kaufhaus Alsberg in (Alt-)Gelsenkirchen an der Bahnhofstraße, um 1928. Dort eröffnet schon 1908 auf dem Grundstück Bahnhofstraße 53 ein Alsberg-Geschäft. Auf dem Nachbargrundstück entsteht 1911/12 und 1927/28 in zwei Bauabschnitten das Kaufhaus Alsberg, das spätere WEKA. Es ist viel größer als das in Buer und ähnelt gestalterisch dem Kaufhaus Althoff an der Hochstraße in Buer, dessen Geschäftsführer Carl Hochheimer ist.
(Abb.: Adressbuch der Stadt Gelsenkirchen)
Leuchten aus dem jüdischen Betraum im Kaufhaus Alsberg an der Bahnhofstraße in Gelsenkirchen. Diese beiden Leuchten hängen dort vermutlich bis in die 1930er-Jahre. Das Kaufhaus ist bei der „Arisierung“ im Nationalsozialismus in den Besitz der Rings AG gelangt und heißt fortan WEKA (Westfalenkaufhaus). Die Leuchten hat ein ehemaliger WEKA-Dekorateur 2004 der jüdischen Gemeinde übergeben.
Viele Mitglieder und leitenden Mitarbeiter*innen der weitverzweigten Familie Alsberg sind in Konzentrationslager deportiert und ermordet worden.
(Foto: Martin Möller / Funke Medien Gruppe)
Metzgerei der Familie Grüneberg in der Gelsenkirchener Altstadt, Hochstraße, 1930er-Jahre.
Die Familie stammt aus dem Raum Iserlohn und zieht vermutlich in den 1920er-Jahren nach Gelsenkirchen. Paul Grüneberg, der die Metzgerei nach dem Tod seines Bruders Albert weiterführt, ist Mitglied des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten.
(Abb.: Institut für Stadtgeschichte, Gelsenkirchen)
Textilkaufhaus Julius Rode & Co. (vormals Gebrüder Hochheimer) am Schalker Markt 8 auf einer Ansichtskarte, vermutl. 1920er-Jahre.
Im Parterre werden Kurzwaren, Wäsche und Stoffe verkauft, im ersten Stock Betten, Gardinen und Bettfedern. Das Geschäft gehört Sally Meyer und seiner Schwägerin Julie Lichtmann. Als sie es in der Nazizeit aufgeben müssen, nutzt der Schalke 04-Meisterspieler Fritz Szepan die Situation und erwirbt es weit unter Wert. Fast alle aus den Familien Meyer und Lichtmann kommen in Konzentrationslagern ums Leben.
(Abb.: FC Schalke 04)
Wohnhaus von Kaufhausdirektor Carl Hochheimer an der Bochumer Straße 69 (heute Cranger Str. 46) in Buer, Foto von 1929.
Das „großräumige[…] Wohnhaus […] im Villenviertel einer Großstadt“, wie das Gebäude in einem zeitgenössischen Architekturbuch beschrieben wird, zeugt vom wirtschaftlichen Erfolg und gesellschaftlichen Selbstbewusstsein seines jüdischen Besitzers.
(Abb.: Hoffman, Haus und Raum, Bd. 1: Neue Villen, 1929)
Todesanzeigen für Carl Hochheimer, Buersche Volkszeitung, 5. September 1930.
Hochheimer ist als Direktor des Kaufhauses Althoff in Buer im Vorstand der Kaufmannschaft Buer e.V. aktiv, vertritt die Arbeitgeber bei der AOK und fördert und leitet den jungen Sportclub „Tabu 29“ in Buer. Er wirkt im Vorstand der Synagogengemeinde in Buer mit.
(Abb.: Institut für Stadtgeschichte, Gelsenkirchen)
Zeitungsbericht über die Beerdigung, Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung, 6. September 1939.
Als Hochheimer 1930 verstirbt, findet seine Beerdigung große Anteilnahme in der Bevölkerung.
(Abb.: Institut für Stadtgeschichte, Gelsenkirchen)