Nach der Befreiung
Wie geht es weiter?
1945 – 1990
Nur wenige Gelsenkirchener Jüdinnen und Juden kehren nach der Befreiung vom Nationalsozialismus in die Stadt zurück. Es sind Überlebende der Deportationen und Lager, Menschen, die sich verstecken konnten, oder zurückgekehrte Flüchtlinge aus dem europäischen Ausland. Wer es in die USA, Kanada oder nach Palästina geschafft hat, bleibt meist dort. Wenige junge Juden wie Henry Cohen oder Albert Gompertz sehen ihre Heimatstadt als US-Soldaten, also als Befreier wieder.
Auch verschlägt es, meist nur vorübergehend, jüdische Menschen aus ganz Europa nach Gelsenkirchen. Sie sind zuvor von den nationalsozialistischen Machthabern verfolgt und zur Sklavenarbeit gezwungen worden. Oft sind es Entwurzelte, ihre Angehörigen leben nicht mehr, sie können nicht mehr in ihre Heimat zurück. Als „displaced persons“ bleiben sie irgendwo, bis sich ihre Situation vielleicht klären wird.
Aus dieser jüdischen Gemeinschaft bildet sich im Sommer 1945 ein „Jüdisches Hilfskomitee“. Hier liegen die Wurzeln der neuen Jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen.
Befreiung vom Nationalsozialismus: Gepanzerte Einheiten der US-Armee beim Einmarsch in Gelsenkirchen, 10. April 1945. Am 8. Mai erfolgt die bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht.
(National Archives and Records Administration, Washington)
Albert Gompertz (1921–2006) als US-Soldat, um 1945. Der älteste Sohn von Leo und Betty Gompertz, die ein Pelzgeschäft auf der Gelsenkirchener Bahnhofstraße hatten, ist 1939 mit Eltern und Geschwistern über die Niederlande in die USA entkommen. Albert tritt 1942 in die US-Armee ein und kommt 1945 als amerikanischer Soldat nach Gelsenkirchen.
(Foto: Privatbesitz)
„[U]nser Haus […] stand wirklich noch. Es war aber beschädigt. Ich wollte zu dem Mann gehen, der unser Haus an der Schwindstraße 4 an dem Tag übernommen hatte, als wir es verlassen mussten. […] Er öffnete, und da war er und saß auf unserem Sofa. Das Mobiliar war unser Mobiliar. Es war eine sehr dramatische Situation. Er war völlig gebrochen und demoralisiert. Er wusste genau, wer ich war. […] Das Einzige, was er sagte, war: ‚Herr Cohen, Sie können alles haben, was Sie wollen‘. Ich sagte, dass ich meinen Vater fragen würde, was er wollte. Es waren alles gestohlene Sachen, alles gestohlen. […] Ich wollte nur unbedingt eine Sache: […] eine Ausgabe der Schiller-Werke, ein Geschenk, das ich zur Bar-Mitzwah-Feier bekommen hatte. […] Er gab sie mir, und das war es, und ich ging raus. Dann nahm ich Kontakt mit meinem Vater auf und erzählte ihm die ganze Geschichte. Er sagte: ‚Ich will gar nichts.‘“
Rückkehr als US-Soldat nach Gelsenkirchen: Henry (Heinz) Cohen (geb. 1922) ist in Gelsenkirchen, Schwindstraße 4, aufgewachsen und 1939 mit seinen Eltern aus Deutschland geflüchtet. Am 2. Oktober 1945 kommt er als US-Soldat zurück nach Gelsenkirchen.
(Erinnerungsbericht Henry Cohens gegenüber dem Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen, publiziert 2004)
Von Warschau ins Ruhrgebiet verschleppt: Fragebogen des Jüdischen Hilfskomitees, ausgefüllt von Josef Kleinbardt, 7. Februar 1946. Der aus Polen stammende Kaufmann (geb. 1904) hat den jüdischen Aufstand im Warschauer Ghetto gegen die Deportation in die Vernichtungslager ab April 1943 überlebt. Er wird 1944 nach Deutschland in ein Zwangsarbeitslager in Hamm/Westf. deportiert, wo er 1945 befreit wird.
(Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland, Heidelberg)
Zweiter Kongress der jüdischen Überlebenden der britischen Besatzungszone im DP-Camp Bergen-Belsen, 20. Juli 1947. Die jüdischen Komitees und Gemeinden in mehr als 50 Städten der britischen Besatzungszone wählen ein „Zentralkomitee der befreiten Juden in der britischen Zone“, das sich für eine ungehinderte Einwanderung nach Palästina einsetzt.
(United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C., courtesy of Alex Knobler)
„Keine Feder wird je spitz genug, kein Wort je stark genug sein, um der Welt die Kunde unseres Untergangs in Ganzheit deutlich werden zu lassen. Darin liegt auch nicht die Bestimmung unseres Gerettetseins. Wir wollen nichts anderes, als für die Jahre, die uns noch verblieben sind, ein Leben führen, das uns selbst gehört.“
Norbert Wollheim, Vizepräsident des Zentralkomitees der befreiten Juden in der britischen Zone, in einer Rede vor der Jüdischen Gemeinde Hamburg, 9. November 1948
(Archiv Gedenkstätte Bergen-Belsen, gekürztes Zitat zit. nach Ausstellung „Überlebt! Und nun?“, Hamburg)
Norbert Wollheim bei einer Rede auf dem jüdischen Friedhof in Lübeck, 1948
(United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Norbert Wollheim)
Versammlung des Jüdischen Hilfskomitees, vermutlich im Sommer 1945 im Hotel zur Post. Ganz hinten links steht Kurt Neuwald, späterer Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, ebenso sind einige weitere spätere Gemeindemitglieder abgebildet.
Das Komitee trifft sich anfangs in der von den Besatzungsbehörden beschlagnahmten Villa Burgmer an der Hindenburgstraße 105 (später Husemannstraße) und nutzt dann Räume in der Schwindstraße 18. Es beschafft für Bedürftige Lebensmittel, Kleidung und Wohnungen und hilft bei Entschädigungs- und Rückerstattungsanträgen. Es arbeitet dabei mit anderen Verfolgtenkomitees zusammen. 76 Personen erfasst eine vom Hilfskomitee erstellte Liste der im November 1945 in Gelsenkirchen lebenden Juden und Jüdinnen.
(Foto aus: Apfeld, Bau, 2009)
Schreiben des Jüdischen Hilfskomitees Gelsenkirchen für Lore Fein (geb. Sass), das als vorläufiger Ausweis zur Vorlage bei Behörden dienen sollte, 22. Juli 1946. Unterzeichnet hat Robert Jessel. 1921 in Gelsenkirchen geboren, ist die Kindergärtnerin Lore Sass mit ihren Eltern ins Ghetto Riga deportiert worden. Ihre Eltern überleben die Schoah nicht. Lore kann bei Kriegsende mit ihrem Freund Eduard aus einem Zwangsarbeitertransport fliehen. Sie heiraten und kehren über Lodz nach Gelsenkirchen zurück, emigrieren später mit zwei Kindern zuerst nach Israel und dann in die USA.
(Institut für Stadtgeschichte, Gelsenkirchen)
Hilfe aus den USA: Anzeige in der in den USA erscheinenden deutsch-jüdischen Exil-Zeitung Aufbau, 9. November 1945. Die aus Gelsenkirchen stammenden Max Klein und Leo Gompertz gründen in New York eine Unterstützergruppe für das Jüdische Hilfskomitee in Gelsenkirchen.
(Leo Baeck Institute Library Periodical Collection)
Plakat des Oberpräsidiums der Provinz Westfalen in Münster, um 1945/46. Hier werden Kriegsgeschädigte und Verfolgte gemeinsam als „Opfer“ im „Hitler-Krieg“ bezeichnet und unter der Überschrift „Westfalens jüdische Tragödie“ die jüdischen Ermordeten und Vertriebenen und „geschändet[en]“ Synagogen genannt.
(Stadtarchiv Münster)