Plötzlich alles anders:
Die jüdischen Gemeinden wachsen
1990 – heute
Weltpolitische Ereignisse verändern die Lage der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland in den 1990er-Jahren grundlegend. Nach dem unerwarteten Fall der Mauer und dem Ende der Sowjetunion kommen über 210.000 jüdische Flüchtlinge nach Deutschland. Zwischen April 1991 und Dezember 2000 reisen etwa 33.000 über die Landesstelle in Unna-Massen nach NRW ein. Sie werden von dort vornehmlich auf Städte mit jüdischen Gemeinden „verteilt“. Etwa 1.000 jüdische Menschen kommen bis 2005 nach Gelsenkirchen.
Nicht alle Neuankömmlinge werden Mitglied der Gelsenkirchener jüdischen Gemeinde. Ihre Mitgliederzahl steigt aber ab 1992 von gerade einmal 80 auf über 400 Gläubige. Ähnlich ist es in anderen Gemeinden im Ruhrgebiet. Ungeahnte Aufgaben sind zu bewältigen. Die neuen Gemeindemitglieder sprechen kein oder kaum Deutsch. Sie müssen sich beruflich und gesellschaftlich neu orientieren. Viele von ihnen haben bislang nicht religiös gelebt. Die neuen Zugewanderten prägen fortan das Gesicht der jüdischen Gemeinde.
Herkunft jüdische Einwanderer in Deutschland aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion seit 1990. Antisemitismus und die unsichere Lage in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion veranlassen in den 1990er-Jahren fast 1,2 Millionen Juden und Jüdinnen auszuwandern – überwiegend nach Israel, aber auch in die USA und Kanada oder in europäische Staaten. Mehr als 210.000 von ihnen kommen als „Kontingentflüchtlinge“ nach Deutschland.
(Grafik: Stephan Pegels/STEP-Design, mit freundlicher Genehmigung entnommen aus: „So viel Aufbruch war nie … “ Neue Synagogen und jüdische Gemeinden im Ruhrgebiet, hg. von Manfred Keller, Berlin 2011)
Die Landesstelle für Aussiedler, Zuwanderer und ausländische Flüchtlinge in Unna-Massen, um 1990. Die Landesstelle ist die erste Station der aus der ehemaligen Sowjetunion kommenden jüdischen Kontingentflüchtlinge in NRW, von dort werden sie auf die Städte verteilt. Nicht alle wollen oder dürfen Mitglieder der jüdischen Gemeinden werden. Nach den jüdischen Religionsgesetzen ist die Abstammung von einer jüdischen Mutter ausschlaggebend. In der Sowjetunion galt auch als jüdisch, wer einen jüdischen Vater hat.
(Foto: DOMiD-Archiv, Köln / Bestand Landesstelle Unna-Massen)
Kümmert sich um die Neuankömmlinge: Fawek Ostrowiecki (1927–2017), ab 1992 Vorsitzender der jüdischen Gemeinde (Foto von 2014). Er stammt aus der polnischen Stadt Łódź. Dort wird er 1940 im Ghetto interniert, 1944 nach Auschwitz und von dort zur Zwangsarbeit nach Bayern deportiert. 1954 lässt er sich in Gelsenkirchen nieder und gründet einen Großhandel für Strickwaren. 1992 löst er den hochbetagten Kurt Neuwald als Gemeindevorsitzenden ab. Er ist oft der erste Ansprechpartner für die russischsprachigen Neuankömmlinge, hilft ihnen bei Behördengängen, Wohnungs- und Arbeitssuche. Ostrowiecki bleibt bis 2007 Gemeindevorsitzender, lebt anschließend in Berlin und Israel. 2017 verstirbt er.
(Foto: Martin Möller/Funke Medien Gruppe)
Fawek (rechts) und sein Bruder Isaak Ostrowiecki (2. v. links) mit weiteren „DP’s“ 1945 in Petzenhausen (bei Landsberg in Oberbayern), wohin er zuvor als Zwangarbeiter deportiert wurde und wo er von US-amerikanischen Soldaten befreit worden ist. Später lebt der 18-jährige mit einem Freund eine Zeit lang im DP-Lager Bergen-Belsen (zuvor Konzentrationslager).
(Abb.: Familie Ostrowiecki/Brandstetter)
Die überlebenden Geschwister Isaak, Fawek, Rütke, Rosa und Blanka Ostrowiecki 1947 zu Rosh Hashanah in Ettringen
(Abb.: Familie Ostrowiecki/Brandstetter)
„Plötzlich waren da ganz viele Juden, die keine Ahnung hatten, wie ein Gottesdienst ablief, die keine Erfahrungen mit koscherem Essen hatten und wenig Wissen darüber – das mussten wir ihnen alles erst vermitteln. Das war personell und organisatorisch schwierig – aber das Judentum hat ja immer mit Wanderung und Zuwanderung zu tun, also das mussten wir einfach schaffen.“
(Judith Neuwald-Tasbach im Interview, 2016)
Gräber auf dem jüdischen Friedhof in Gelsenkirchen, 2020. Mit den Zugewanderten ändern sich auch die Formen des Totengedenkens. So ist Blumenschmuck auf traditionellen jüdischen Friedhöfen eigentlich nicht üblich, hier aber gängige Praxis. Zudem ist ein Teilbereich des Friedhofs für gemischte, also jüdische und nicht-jüdische Familien ausgewiesen.
(Foto: Stefan Goch)
Heldentafel im Gemeindesaal der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen. Die neuen Mitglieder aus der ehemaligen Sowjetunion erinnern und gedenken in anderer Weise an Verfolgung und Krieg, als dies bisher in Bundesrepublik üblich ist. Nicht wenig von ihnen haben in der sowjetischen Armee gegen das nationalsozialistische Deutschland gekämpft. Auch der frühere Gemeindevorsitzende Kurt Neuwald findet seinen Platz auf dieser Tafel.