Vom Raub zur „Vernichtung“
1933-1945
Zuerst wird die jüdische Bevölkerung diskriminiert, ausgegrenzt und ausgeraubt, dann vertrieben, deportiert und ermordet. Nach dem Überfall Deutschlands auf Polen 1939 und die Sowjetunion 1941 gehen deutsche Behörden, Polizeieinheiten (auch aus Gelsenkirchen), SS und Wehrmacht brutal gegen Juden und Jüdinnen vor. In den besetzten Gebieten kommt es zu ersten Massenmorden, schließlich zur systematischen „Vernichtung“, die als „Endlösung der europäischen Judenfrage“ auf der Wannseekonferenz im Januar 1942 organisiert wird.
Für die Juden und Jüdinnen in Gelsenkirchen und wird die Lage immer unerträglicher. Ihr Besitz wird geraubt, sie verlieren ihre Arbeitsplätze und können zu Zwangsarbeit verpflichtet werden. Wer nicht fliehen kann (bis 1939 gelingt dies mehr als der Hälfte der jüdischen Bevölkerung), hat ab 1941 kaum noch eine Chance zu entkommen. Auf Anweisung der Gestapo werden „Juden in rein jüdischen Häusern zusammen[gefasst]“. Sie müssen sich in der Öffentlichkeit mit einem gelben „Judenstern“ kennzeichnen.
Schließlich werden die meisten von ihnen vom Güterbahnhof Gelsenkirchen aus nach Riga, Warschau, Theresienstadt und Auschwitz deportiert. Sie kommen fast alle in den Ghettos und Lagern ums Leben. Nur wenige können sich verstecken und untertauchen.
Auszug aus dem Hausstandsbuch für das Gebäude Hindenburgstraße 41, Gelsenkirchen, mit Einträgen von 1939–1950. Hier ist festgehalten, wer in dem Haus wohnt und gemeldet ist. Das Haus ist vermutlich eines der sog. Judenhäuser, in dem Juden und Jüdinnen zwangsweise einquartiert werden. Während das Ehepaar Wilhelm und Klara Spanier im Dezember 1939 nach Santiago de Chile fliehen kann, ist bei zahlreichen Personen das Abmeldedatum 11. Februar 1942 mit dem Vermerk „n[ach] Unbekannt“ angegeben. Diese Menschen sind ab dem 27. Januar 1942 nach Riga deportiert worden. Ab September 1942 ziehen dann Personen in das Haus, die nicht jüdisch sind (jüdische Menschen müssen zwangsweise die zweiten Vornamen Israel bzw. Sara tragen).
(Institut für Stadtgeschichte, Gelsenkirchen)
Benachrichtigung der Familie Schloß über die anstehende „Evakuierung nach dem Osten“ durch die Bezirksstelle Westfalen der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, Büro Gelsenkirchen vom 3. November 1941. Die Behörden, hier die Gestapo, zwingen die jüdische Organisation, an der Vorbereitung der als „Evakuierung nach dem Osten“ bezeichneten Deportation mitzuwirken.
(Privatbesitz Lewis R. Schloss/Reproduktion Institut für Stadtgeschichte, Gelsenkirchen).
Letzte Mitteilung der Bezirksstelle Westfalen der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, Büro Gelsenkirchen, über die „Evakuierung Ost“ vom 17. Januar 1942.
(Privatbesitz Lewis R. Schloss/Reproduktion Institut für Stadtgeschichte, Gelsenkirchen)
Häftlingskarteikarte des Konzentrationslagers Buchenwald für Arthur Herz, August 1944. Herz wächst in Gelsenkirchen auf und macht dort eine Metzgerlehre. Als Jugendlicher spielt er beim FC Schalke 04 und bis 1938 in der Fußballgruppe des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten. In der Pogromnacht im November 1938 wird er von Nazis aus dem Fenster geworfen und verletzt. Am 27. Januar 1942 gehört er zu den nach Riga Verschleppten. Er überlebt viele Konzentrationslager, bis er im Mai 1945 in Theresienstadt von der Roten Armee befreit wird. 1949 wandert er nach New York aus.
(Arolsen Archives/ITS)
Schalke 04-Mitgliedsausweis für Arthur Herz
(Abb.: FC Schalke 04)
Arthur Herz (r.) mit einer Gruppe von Fußballspielern des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten, ca. 1935
(Abb.: Institut für Stadtgeschichte, Gelsenkirchen)
„Selektion im Ghetto Riga“, Zeichnung des Gelsenkircheners Bernd Haase, der als 15-jähriger am 27. Januar 1942 mit seiner Mutter und einer Schwester dorthin deportiert wird. Später kommt die Familie in ein Konzentrationslager bei Riga, wird dann ins KZ Stutthoff bei Danzig verschleppt, wo Mutter und Schwester umkommen. Sein Vater wird in Auschwitz ermordet. Haase wird im März 1945 befreit und kehrt zunächst nach Gelsenkirchen zurück, bevor er 1947 in die USA auswandert.
(Zeichnung von Bernd Haase, Privatbesitz)
Seite 1 einer Liste von Juden und Jüdinnen aus Gelsenkirchen, Buer und Horst, die mit dem Transport vom 27. Januar 1942 nach Riga verschleppt wurden, zusammengestellt vom Jüdischen Hilfskomitee vermutlich im Juni 1946. Die Liste umfasst 353 Personen, zumeist mit Vermerken wie „umgekommen“, „liquidiert“, im „Ghetto verstorben (Hunger)“, „auf dem Transport nach R. erschossen“. Nur vereinzelt ist vermerkt, dass die Person überlebt hat; bei 18 Personen steht „lebt in Gelsenkirchen“ am Schluss der Zeile.
(Institut für Stadtgeschichte, Gelsenkirchen/überlassen von Kurt Neuwald)
Angehörige des Reserve-Polizeibataillons 65, das seinen Heimatstandort in Buer hat, 1941 in Lugy (südöstlich von Leningrad). Die Polizisten zwingen einen jüdischen Gefangenen, ein Bärenfell anzuziehen und mit einem ausgestopften Bären zu tanzen. Später wird er gefoltert und schließlich erschossen. Viele Polizisten aus dem Bataillon stammen aus Gelsenkirchen und Buer. Sie sind teilweise an Erschießungen von Kriegsgefangenen und Juden und Jüdinnen beteiligt.
(Landesarchiv NRW Abt. Westfalen, Q 234/Staatsanwaltschaft Dortmund, Zentralstelle für die Bearbeitung von NS-Massenverbrechen, Nr. 3510, Bild 32)
„Ich wurde zum Exekutionskommando eingeteilt. […] Es wurde wahllos auf die an der Grube knienden Opfer geschossen. […] Es gab reichlich Schnaps und Zigaretten und gute Verpflegung. Man machte uns praktisch betrunken, damit wir dieses grausige Geschäft überhaupt durchführen konnten. Exekutiert worden ist praktisch den ganzen Tag über.“
Aussage von Josef Dargel (1909–1980), Angehöriger des Polizeibataillon 65, im Zivilberuf Schneider in Gelsenkirchen, bei einer polizeilichen Vernehmung im Jahr 1965 über eine Massenerschießung bei Krakau im Herbst 1942
(nach: Klemp, Nicht ermittelt, S. 182 / Landesarchiv NRW Westfalen)