Zurückgekehrt nach Gelsenkirchen
1945 – 1990
Vorübergehende Rückkehr:
Bernd Haase (geb. 1926)
Bernd Haase ist am 27. Januar 1942 zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester von Gelsenkirchen nach Riga deportiert worden. Später kommt er in das KZ Stutthof. Seine Eltern und seine jüngere Schwester Ingrid kommen in Konzentrationslagern ums Leben, nur seine ältere Schwester kann in die USA fliehen. Als einziger aus seiner Familie kehrt Bernd Haase im Juli 1945 als 19-jähriger nach Gelsenkirchen zurück:
„Die Stadt war stark zerstört und es war schwer Unterkunft und Verpflegung zu finden. Zuerst kam ich bei Fritz Beine unter. Seine Frau war vor dem Holocaust unsere Haushaltshilfe gewesen, und Fritz war ein alter Bergmann und ein gegen die Nazis eingestellter Kommunist. Da ich nicht dauerhaft bei ihm bleiben konnte, zog ich dann zu meinem Freund Chaim Häusler, der Riga und Buchenwald überlebt hatte. [Auch der ungefähr gleichaltrige Chaim hatte laut Deportationsliste seine ganze Familie verloren und war alleine nach Gelsenkirchen zurückgekehrt.]
Schließlich fand die Stadtverwaltung für mich einen schönen Raum bei der Familie Herwig. Herr Herwig war ein leidenschaftlicher Antifaschist und Sozialist, und dort bekam ich gutes Essen. Als ein früherer „politischer Gefangener“ erhielt ich doppelte Lebensmittelrationen und Herr Herwig kombinierte sie erfolgreich mit deren Lebensmittelkarten. Ich war aber immer noch dauernd hungrig.
[…] Mit Hilfe von Juden innerhalb der britischen Besatzungsmacht konnte ich Kontakt mit meiner Schwester Margot in New York und Lotte und Ernst Spiegel in Israel aufnehmen. Lotte schickte mir sofort Care-Pakete. […] Mit der Hilfe meiner Schwester Margot verließ ich Deutschland im Januar 1947, um in die USA zu gehen.“
Bericht von Bernd Haase gegenüber dem Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen, publiziert 2004
Bernd Haase als etwa 12-jähriger Schüler, ca. 1937/38, bei einem Ausflug mit Rabbiner Dr. Siegfried Galliner und anderen jüdischen Schüler*innen.
(Foto: Klaus Back/Institut für Stadtgeschichte, Gelsenkirchen)
Erster Vorsitzender: Robert Jessel
(geb. 1886)
Erster Vorsitzender der wieder gegründeten Jüdischen Gemeinde ist Robert Jessel. Er lebt seit 1920 in Gelsenkirchen und ist mit der „arischen“, also nicht-jüdischen Augusta (geb. Gehleb) verheiratet. Dies schützt ihn zunächst vor den Deportationen, bis er 1944 im Polizeigefängnis Gelsenkirchen interniert und dann in das Arbeitslager Oberloquitz in Thüringen gebracht wird. Von dort kann er mit Hilfe seiner Ehefrau fliehen. Bis zur Befreiung im April 1945 taucht er zusammen mit David Herstein in Gelsenkirchen in der Wanner Straße 4 unter.
Jessel engagiert sich im Jüdischen Hilfskomitee und baut die Gemeinde mit auf. Neben den Hilfeleistungen für die Überlebenden gehört dazu auch die Pflege der jüdischen Friedhöfe, die im Nationalsozialismus geschändet wurden. Das Komitee erstattet im Oktober 1946 Anzeige wegen der Brandstiftung der Synagoge im November 1938.
1956 übergibt Jessel den Gemeindevorsitz an Kurt Neuwald und zieht nach Hessen.
Brief der Jüdischen Gemeinde an den Landesverband der jüdischen Gemeinden Westfalen, 5. Dezember 1951, mit Unterschrift Robert Jessels. Immer wieder meldet die Gemeinde in den 1950er-Jahren den Wegzug von Gemeindemitgliedern, zum Beispiel in die USA.
(Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland, Heidelberg/Einige Namen unkenntlich gemacht.)
Familie Moses und Ruth Elisabeth Kuschner
Moses (1897–1968) und Ruth Elisabeth Kuschner (1907–1985) haben die Verfolgung im Nationalsozialismus überlebt. Moses kehrt 1945 aus dem KZ Theresienstadt nach Gelsenkirchen zurück. Seine Frau und die Tochter Erika Esther (geb. 1928) haben sich in einem Dorf als angeblich ausgebombte Flüchtlinge verstecken können. Tochter Ruth (geb. 1926) wird in einem Zwangsarbeiterlager bei Hagen befreit. Moses ist durch die KZ-Haft abgemagert und krank. Daher verwirft er alle Überlegungen, nach Palästina/Israel oder in die USA auszuwandern. So wird die jüngste Tochter Doris 1946 in Gelsenkirchen geboren. Die älteren Töchter emigrieren in die USA.
Die beiden Eltern leben als kranke Menschen von einer Entschädigungsrente und halten engen Kontakt mit der jüdischen Gemeinde. Moses gehört bei den Gottesdiensten zum Minjan (zehn gebetsmündige Männer). Ruth engagiert sich im Frauenverein und ist bekannt für die schmackhaften Matzeklöße zur Pessach-Seder. Beide sind auf dem jüdischen Friedhof in Ückendorf beerdigt.
Sonderausweis für politisch, rassisch und religiös Verfolgte für Moses Kuschner, 1949
(Archiv Yad Vashem, Israel)
Ansichtskarte des Henrietta-Szold-Kinderferienheims in Schönau-Wembach (Schwarzwald) mit Schreiben der etwa 10-jährigen Doris Kuschner, adressiert an Kurt Neuwald in Gelsenkirchen, nach 1956. Das 1956 von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland erworbene Ferienheim ist nach einer amerikanischen Zionistin benannt, die sich in den 1930er-Jahren für die Rettung jüdischer Kinder und Jugendlicher aus Deutschland nach Palästina einsetzt.
(Jüdische Gemeinde Gelsenkirchen)
Das Ehepaar Kuschner mit Tochter Doris in Gelsenkirchen, Juli 1967. Nach ihrem Schulabschluss geht Doris 1962 zum Studium in die USA. Sie kehrt anschließend nach Gelsenkirchen zurück, um an der Kölner Universität mit einer Arbeit über die „jüdische Minderheit in Deutschland“ ihren Doktortitel zu machen. Schließlich wandert sie nach Israel aus.
(Dr. Dorit Kuschner, Israel)